Leseprobe aus "minutenbunt":

Zeit messen


Helene trägt ihre Armbanduhr. Helene hat ihren alten Wecker auf dem Nachtisch. Helene gibt der Tochter ihre Uhr mit und ist ärgerlich: "Hier verstellt immer jemand meine Uhr." Die Tochter kauft eine neue Batterie. Die Tochter kauft sogar eine neue Uhr. Die Uhr geht falsch.

Helene weiß nicht, welche Zeit es ist. Die Uhr sitzt verkehrt herum am Handgelenk.

Helene steht in der Nacht auf und zieht sich an. Sie hat vergessen, dass es nachts dunkel ist. Sie möchte einfach los. Wohin?

Helene wacht nach dem Mittagsschlaf auf und sucht Halt in einem ganz neuen Tag. Hat sie schon gefrühstückt? Wann gibt es Abendbrot?

An manchen Tagen versorgt die Tochter Helene, wechselt ihr die Windel, schneidet ihr die Nägel. Da geschieht es, dass Helene die Tochter fest umarmt. Beschwörend pointiert sie die Worte:
"Ich möcht' die Zeit anhalten! Es ist so schön mit dir." Die Tochter ist überwältigt von der Liebe, die sie spürt und der Dankbarkeit, die beide vereint.

Die Zeiger der Uhren sind verstummt. Diese Nähe währt eine gefühlte Ewigkeit.

Am Abend sagt Helene glücklich: "Es war so schön mit Dir. Das vergesse ich nie."
Die Tochter legt den Satz über alle Verletzungen, die Mütter und Töchter einander zufügen.

Am nächsten Morgen beklagt Helene sich bitter bei der Pflegerin:
"Wo ist sie denn, die Tochter? Ich habe sie schon wochenlang nicht mehr gesehen."





Minutenbunt

Ach, könnt ich doch
der Uhren Zeiger
festnähen
auf ihrem Zifferblatt.
Könnt ich verknoten
die fliehenden Fäden der Zeit.

Könnt ich
fangen den Moment,
in dem wir uns begegnen,
Jetzt,
uns wärmen am Alltäglichen
mit Dankbarkeit.

Aber die Zeit
ist ein Ballon,
gebläht vom Nichts,
minutenbunt,
da windet sich die Schnur
aus meinen Fingern

und

fliegt

davon



Anke Mühlig
2012



- zurück zum Projekt minutenbunt -

- Impressum -