Die 10 Umwege, die geradewegs ins Komponistendasein führten:
Gerade sitze ich in meiner Wohnung in Berlin auf dem blauen Sofa und schreibe die Biographie für meine Homepage. Oder besser, ich grübele darüber, wie ich das tun möchte. Denn inzwischen verraten die Namen der Hochschulen, an denen ich studiert habe, nur wenig von dem, was mein musikalisches Dasein ausmacht. Die Bandbreite der Möglichkeiten, mein Leben ohne das Gerüst eines klassischen Lebenslaufes zu erzählen, scheint jedoch wie eine riesige Leere.
Da taucht ein Gedanke auf: Ein anderes blaues Sofa. Unerwartet macht es Sinn, die Erzählung meines Lebens von dort aus zu beginnen. Es ist das Sofa meiner Eltern, auf dem ich als Kind oft lag und mit dem Finger das Muster im Stoff nachzeichnete. So in die Fäden der eingewebten Blumen starrend, fragte ich mich: "Was war vor dem, was ich erinnere?" Diese Frage führte zu weiteren Fragen: "Was war vor dem, was meine Eltern erinnern? Was war vor dem, was Menschen erinnern? Was war, bevor alles war?". Die Antwort auf die letzte dieser Fragen war eine Stimmung von wirklich unfassbarer Leere. Eine Leere, die man sich nicht anschauen kann. Sie entglitt mir, wenn ich mich auf sie fokussieren wollte. Das fühlte sich fremd und unheimlich an und ich stand auf vom Sofa und dachte an anderes.
Kurze Zeit später kam ich in die Schule. Dort hörte ich davon, dass Freundinnen zum "Flöten" oder zum "Klavier" gingen. Die Folgen nicht erahnend, erläuterte ich meinen Eltern, dass es ebenso wichtig sei Musik zu lernen wie Mathematik und Deutsch zu beherrschen. Sie waren überrascht, doch schnell überzeugt, und schenkten mir zum nächsten Weihnachtsfest eine Blockflöte. Als ich im Alter von zehn Jahren zur Klarinette wechselte, war ich entschieden: Ich wollte später "etwas mit Musik" werden. Es schien mir, dass diese Aussage in der Welt der Erwachsenen bedeute, man werde Orchestermusikerin. Also spielte ich mich durch die verschiedenen Kompositionen und Länder.
Während des Studiums in Norwegen erlebte ich einen Schlüsselmoment, als ich zum Klarinettenunterricht erschien und meinen Professor überraschenderweise am Flügel sitzend vorfand. Die Klarinetten lagen woanders. Er spielte eine Melodie, die ich nicht kannte, die aber direkt zu Herzen ging. Ich fragte ihn später danach und er erzählte, dass ihm diese Melodie einmal eingefallen sei und er sie nicht vergessen könne. Ich kann sie seitdem auch nicht vergessen. Es lag etwas von der zeitlosen Stimmung des Sofamomentes in dieser Melodie, aber sie war nicht leer; die Melodie wärmte auf unbestimmbare Weise.
Ich dachte, dass es das sein müsse, was ein Musiker eigentlich können sollte: Musik selbst zu erschaffen, um sie mit Menschen zu teilen. Ich fragte mich, ob die Musik wärmte, weil sie die Leere füllte. Sie erinnerte mich aber auch an irgendetwas Tiefes, Wahres. Beides klang in meinen klassisch ausgebildeten Ohren recht schräg. In jener Zeit war mir nicht bewusst, dass es einen anderen Weg als den ins Orchester gäbe. So erschien mir die Wahl, meinen Hauptfachunterricht an der UDK zeitweise bei einem Geigenlehrer zu nehmen, als "verrückter Seitenpfad" meines Studiums. Ebenso wenig im Studienplan vorgesehen war der Improvisationsunterricht, den ich besuchte - semesterweise zusammen mit vier Querflötistinnen und in Norwegen angeleitet von dem Duo eines Jazzsaxophonisten und eines klassischen Kontrabassisten. Überraschende Ereignisse ließen mich ahnen, wie die Kreativität dieser "Ausreißerstunden" meines Studiums vielleicht die besten Lehrstunden für musikalische Augenblicke außerhalb der Orchesterwelt waren: Als ich einmal anlässlich einer Beerdigung nach Berlin kam, musste die Organistin plötzlich die Kirche verlassen, und ich war gezwungen mit meiner Mitspielerin aus dem Nichts gemeinsam zehn Minuten Musik zu improvisieren. Diese Art von Improvisation ließ mich ahnen, wie es sein kann, aus der Leere etwas entstehen zu lassen. Ich bekam sehr ermutigende Rückmeldungen. Und so improvisierte ich wieder, sooft ich darum gebeten wurde.
2015 schrieb ich die Masterarbeit für mein Studium in Orchestermusik in Stockholm. Auch dort war die Frage nach dem Nichts präsent: Ich erforschte wie sich Meditation auf das Dasein als Musiker auswirken kann.
Nach Studienabschluss spielte ich freiberuflich in verschiedenen Orchestern in und um Stockholm. Gleichzeitig begann ich wieder mehr zu improvisieren, Improvisationen aufzunehmen und improvisierend aufzutreten. Nach einem solchen Auftritt kam eine Zuhörerin auf mich zu und sagte: "Wissen Sie, eigentlich dachte ich immer, dass ich Musik nicht mögen würde, aber das heute, das war anders." Ähnliche Kommentare öffneten mir gedanklich den Weg, mich ans Komponieren zu wagen.
Zeitgleich begann ich eine Ausbildung in Alexandertechnik und war nun plötzlich reich an möglichen Antworten auf die Frage nach meiner Beschäftigung. Als ich zum ersten Mal versuchte, wie es wäre, mich als Komponistin vorzustellen, erhielt ich direkt meinen ersten, recht ungewöhnlichen Kompositionsauftrag. Die Auftraggeberin importiert Schokoladen aus nachhaltig angebautem Kakao. Sie fragte mich, ob ich für Schokoladenverkostungen Stücke zu den verschiedenen Sorten schreiben könnte. Ich stellte fest, dass es mir möglich war in jeder Schokolade einen anderen Charakter wahrzunehmen und diesen in Musik zu übertragen.
Als Komponistin öffneten sich mir noch weitere, unerwartete Türen: Mit der Klarinette, die ich spiele (französisches System), wird man gewöhnlich nicht zu Probespielen für Orchester in Deutschland eingeladen, weshalb ich mir meine Zukunft im Ausland ausgemalt hatte. Als Komponistin und Klarinettistin für Solostücke und kammermusikalische Werke konnte ich aber nach Berlin zurückkehren. So kam es, dass ich im Frühjahr 2017 wieder nach Berlin zog.
Und nun sitze ich auf meinem blauen Sofa und kann davon berichten, wie ich nicht nur die Geschmacksnuancen verschiedener Schokoladen (www.cacaoblue.se) vertone, sondern auch die Stimmungen der Kapitel eines Buches (www.minutenbunt.de; www.kokonen.de) musikalisch interpretiere. Außerdem durfte ich unter Leitung von Antonia Glugla das Element Wasser erfahrbar machen und Gründungsmitglied im Verein I:kozaeder e.V. i.G. (www.facebook.com/ikozaeder) werden. Mit den inspirierenden Künstlern und Musikern dieses Vereins und anderen, freue ich mich den Fragen menschenmöglicher Kreativität von tiefem Sinn bis zu leichtem Genuss auf den Grund gehen zu dürfen und bin jeder Zeit für neue Projekte und Fragestellungen offen.